Kunst braucht Raum

von Werner Christian Jung


 

1. Wir sind Raumwesen
Kennen Sie das: Kinder bauen sich eine kleine Behausung aus einer Decke, die sie über den Tisch ziehen und nisten sich darunter ein. Sie kriechen in den Krabbeltunnel aus Stoff, ziehen sich zurück in die Röhre unter dem Spielplatzberg oder sitzen mucksmäuschenstill im Blätterdach eines Busches.
Wir haben nicht nur einen Körper, sondern sind selbst Körper, Raum-Wesen, sind Raum im Raum.
Und je nach umgebendem Raum „räumen“ wir uns unterschiedlich ein. Im schönsten Fall verführt er uns zu Verschmelzungsversuchen zwischen Ich und Du – Busch, Tunnel, Höhle.
Geboren am … in … - Immer wieder sind es die Koordinaten von Raum und Zeit, die zu unser Identität und Personalität gehören.

2. Räume sind so vieldimensional wie unsere Zugänge auf sie Philosophie und Soziologie, Kunst und Architektur haben die Vielfalt der Mensch-Raum-Beziehungen beleuchtet. Dabei treten drei Raumkategorien besonders hervor:
(1) neutrale, physisch-dreidimensionale Räume – noch vor einer Sinnanhaftung
(2) erlebte Räume, also Orte, die wir mit Ereignissen verbinden („Weißt du noch, was wir hier getan, wie wir uns hier gefühlt haben?“). Streifräume, Bauwerke, Landschaften – viele attributieren wir biografisch. Und sie liegen „am besten in einem vertrauten Land, dem man angehört." (Ernst Bloch)
(3) als „umlebbare“ Räume, also Territorien, die sich uns als plastizierbar zeigen. Sie laden uns ein, sie zu gestalten und tatsächlich Spuren hinterlassen da. Das beginnt im Kleinen wie Bett und Zimmer und weitet sich später. Denn „Raum, in dem das Leben seine Spuren hinterlassen kann, ist ebenso elementar wie Wasser und Luft für menschliches Überleben."
(Ivan Illich)

3. Weil Kunst vielfältig räumlich ist, spricht sie an.
Bildende Kunst braucht Räume, damit wir als Raumwesen durch die Beziehungen zu räumlichen Exponaten vitalisiert werden. So können Geflechte zwischen mir, den mich ansprechenden Werken und den Intentionen der Künstler*innen entstehen – mit überraschend vielen Wirklichkeits- und Deutungskombinationen. Denn der je eigene Lebensstil, der kulturelle Geschmack und die soziale Position der Beteiligten treffen ja auf ein mehrdeutiges Werk. So bildet sich mithilfe der Kunst ein sozial-kultureller Deutungsraum mit größtem Variantenreichtum. Und es wird u.U. ein „Kunstraum“ mit einer vierten Dimension als „Soziale Plastik“ (i.S. von Josef Beuys) sichtbar, der durch seine Vielfalt und unsere Kreativität plastizierend auf unsere Lebenswelten einwirken kann.
Aus solcher Perspektivenvielfalt bezieht jede Gemeinschaft ihre unverzichtbare Vitalität. Aber dazu brauchen Kunstwerke Entstehungsräume und Präsentationsgelegenheiten, die „passen“.

4. Kunst-Raum-Chancen liegen auch jenseits der Zentren
Ländliche Räume scheinen vielfach durch den herrschenden etablierten Kunstbetrieb vernachlässigt.
Ihre Chancen sind jedoch vielfältig:
• Kunstinteresse, Gestaltungswille und aktive kulturelle Teilhabe sind auf dem Land vergleichsweise groß. Für die Mitgliedschaften in Vereinen als örtlichen Kulturträgern ist dies nachgewiesen (z.B. im Vergleich von Rheinland-Pfalz zu Berlin). Und auch die Vereinigungen der Kunstschaffenden gehören dazu, wie das „Kunstforum Westerwald“.
• Unsere abwechslungsreichen Natur-Kulturräume reizen geradezu zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der ökosozialen Nahwelt (z.B. im Projekt „Kunst auf Zeit – vergängliche Kunst“).
• Der „Reichtum“ an nutzungsoffenen Gebäuden auf dem Land ist für Ausstellungen groß – und sollte regionale Kulturträger und Politik anspornen, hier auch zuzugreifen.
Für Kunst-Raum-Erweiterungen gibt es ermutigende Ansätze. Beispielhaft sei die Region um Altenkirchen (Westerwald) betrachtet:
Da werden Kulturlandschaft, Ökologie und Kunst zusammengebracht (z.B. im Projekt „Nuturkunstpfad“ zwischen Altenkirchen und Amteroth oder durch die Nutzung regionaler Medien wie Ton und Holz).
Da öffnen sich Kirchen nicht nur für Konzerte, sondern auch für thematische Ausstellungen.
Da wird Offene Jugendarbeit mit Kulturarbeit und Diversitätsfragen verknüpft.
Da erhalten altindustrielle Anlagen (z.B. Kulturwerk Wissen oder Stöffelpark) oder freie Lagerhallen (z.B. Jugendkunstschule) neue kulturelle Funktionen.
Da werden Leerstände in der Fußgängerzone zu Kunst-Hotspots.
Da mutieren Hausgärten zeitweilig zu Open-air-Galerien (z.B. „Im Mühlberg“ oder „Obererbacher Garten-Tag“).
Auch die Kunstschul-, Atelier- und Galeriedichte in der Region ist überproportional, wie jede artem-Ausgabe überzeugend belegt.
Wir können diese ambitionierten Sozialraum-Schätze und die verbreitete Mitmachkultur für die Bildende Kunst nutzen. So bekommt Kunst ihre Räume. Und unsere Gemeinwesen erhalten ihre „Schönheitshindernisse“ (Hundertwasser), wo Lebenserfahrungen zwischen Heimat, Entheimatung und Wiederaneignung aufgehoben werden können.

Kunst bereichert uns mit ihrer Vielfalt an Perspektiven – geben wir ihr bei uns Raum!

0 comments on “Kunst braucht Raum

Comments are closed.